Am 15. September 1954 haben diese beiden Informatik-Pioniere in Düsseldorf ihre neuesten Forschungsergebnisse präsentiert. Von Neumann stellte den eben von IBM abgelieferte NORC (Naval Ordnance Research Calculator) vor, welcher eine Erhöhung des menschlichen Wirkungsgrades beim Rechnen um einen Faktor von 13’000 ermöglichte. Stiefel betonte, dass dank diesen modernen Maschinen, von Computern hat noch niemand gesprochen, qualifizierte Mitarbeiter nicht länger für numerische Rechnungen eingesetzt werden müssen. Die Entwicklung ist rasant weitergegangen, trotzdem ist heute, 70 Jahre später, der Fachkräftemangel omnipräsent. Was ist passiert? Haben die verschiedenen Techniken zu keiner Arbeitserleichterung geführt? Der Autor geht in einer zweiteiligen Serie auf Spurensuche und beleuchtet in 16 Punkten mögliche Ursachen.
Verschiedene Anstrengungen und Entdeckungen der Menschheit haben dazu geführt, dass in der Schweiz seit den 1950er Jahren der Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen von 16.5 auf 2.4 Prozent gesunken ist. Auch im Industriebereich hat sich der Anteil von 46.2 auf 20.2 Prozent verringert. Hingegen arbeiten heute 77.5 Prozent im Dienstleistungsbereich, vor 70 Jahren erst 37.3 Prozent. Das sind krasse Verschiebungen. Die Technik hat ihren Anteil geleistet und die Produktion, sei es im landwirtschaftlichen wie auch im industriellen Bereich, ist markant gestiegen. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass dank der Globalisierung ein reger Handel über die Landesgrenzen stattfindet, sowohl im Import wie auch im Export.
Trotzdem, der Fachkräftemangel ist spürbar. Sowohl im übergeordneten, von der Gesellschaft bestimmten, Makrobereich, wie auch im persönlichen Mikrobereich sind massgebliche Vorkommnisse zu beobachten, welche meist nicht zur Diskussion kommen. Heute geht es bei der Spurensuche um die 8 Makrobereich-Punkte.
Eine Unmenge an Fixpunkten gesammelt [1]
Sei es in der Landschaft, sei es in der Politik oder sei es im Freizeitsektor, wir haben in den letzten Jahren einiges mehr geschaffen als alle bisherigen Generationen vorher, leider auch was den Materialverbrauch und die Umweltbelastung angeht. Exemplarisch ist das auf der Website «Zeitreise–Kartenwerke » von Swisstopo auf dem Campus der ETH Hönggerberg ersichtlich, wo sich heute der Eduard-Stiefel- und der John-von-Neumann-Weg treffen und eine grosse Zahl von Universitätsbauten zu finden sind. Vor 70 Jahren ist dort grösstenteils Wiesland gewesen. So sind im Umkreis von 400 m gerade mal zwei Einzel-Gebäude eingezeichnet.
Jede Änderung und Anpassung des Bestands erfordert heute klar durchdachte und aufwändig zu gestaltende Integrationsschritte und Verbindungsstellen, ich sage bewusst nicht Schnittstellen, um das Gesamtsystem nicht aus der Ordnung zu bringen. Auch Gesetze und viele weitere Ergänzungen in unserem Lebensbereich benötigen heute wohldurchdachte Massnahmen, welche von Fachpersonen im Detail implementiert werden müssen. Vermutlich haben wir auch hie und da über unsere Verhältnisse gelebt, einige pendente Punkte nicht zeitnah aufgearbeitet und gelöst, sondern einfach vorhergeschoben: Ein aktuelles Beispiel ist nicht nur der Palästina-Konflikt.
Auch die vollautomatische Produktion, meist in Übersee, führt dazu, dass es finanziell, aber nicht ressourcenmässig, günstiger ist, neues zu produzieren als bestehendes zu reparieren oder wieder instand zu stellen. So ist es zum Beispiel billiger eine neue Schere zu kaufen als die alte schleifen zu lassen.
Aufwand für den laufenden Betrieb [2]
Das immer umfangreichere vom Menschen geschaffene Werk erfordert auch eine intensivere Instandhaltung und Erneuerung. Nur so kann die Gebrauchstauglichkeit erhalten bleiben. Alle diese Fachpersonen müssen rekrutiert werden und stehen nicht mehr für andere Aufgaben zur Verfügung.
Und wer jetzt denkt, ich mach doch alles digital, darf nicht vergessen: Obwohl wir von Informationen sprechen, die auf immer kleinerem Raum in der sogenannten Cloud gespeichert werden, steckt relativ viel materielle Welt dahinter: Funkmasten, Glasfaserverbindungen, Netzknotenstellen und Rechenzentren verbrauchen nicht nur viel Material beim Erstellen, sondern auch einiges an Energie für den Betrieb.
Grösseres Angebot bei der Berufswahl [3]
Überall hat die Vielfalt zugenommen, sei es bei den Berufen, sei es bei den Möglichkeiten etwas überhaupt zu tun. Zudem hat sich noch eine virtuelle Welt geöffnet. Wer gestalten und kreieren will, ist nicht mehr aufs Architektur- und Bauingenieurwesen beschränkt. Auch virtuelle Welten wollen erschaffen werden. Und so kann sogar Game Design heute an Schweizer Fachhochschulen studiert werden.
Cybersicherheit ist zu gewährleisten [4]
Leider ist beim Übergang von der Elektronischen Datenverarbeitung EDV zur heutigen Digitalisierung dem Thema Sicherheit nie die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt worden. Oft ist man bereits froh gewesen, die gestellten Aufgaben in den Grundzügen erfüllen zu können. Andererseits ist auch das, was wir heute als Internet bezeichnen, am Anfang ein reines Forschungsnetzwerk gewesen, wo sich die einzelnen Beteiligten gekannt haben und ihre Forschungsresultate weltweit austauschen wollten. Und um diese Cybersicherheit zu gewähren, braucht es wiederum Fachleute, die auch anderswo eingesetzt werden könnten.
Qualitätsüberwachung für den Fall der Fälle [5]
Früher als der Mensch Selbstversorger gewesen ist und die Übersicht über die gesamte Wertschöpfung persönlich kontrolliert hat, ist ein Herkunftsnachweis überflüssig gewesen. Er wusste alles aus erster Hand. Mit der Arbeitsteilung ist der Überblick verloren gegangen. Die Nachvollziehbarkeit ist ins Zentrum gerückt und auch die Compliance, nach Duden das „regelgerechte, vorschriftsgemäße, ethisch korrekte Verhalten», sind geregelt worden und müssen überwacht werden. So erfolgen viel Protokollierungen von Zwischenzuständen und Prozessschritten im Rahmen des Qualitätsmanagements, die in der Mehrheit der Fälle gar nicht mehr angeschaut werden. Nur im Fall der Fälle einer Unregelmässigkeit wird darauf zurückgegriffen. Und das braucht wiederum Ressourcen, welche nicht nur im Gesundheitswesen, für die Basistätigkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die Krux der Verantwortung und Entlöhnung [6]
Arbeiten mit fixen Arbeitszeiten wird heute oft besser entlöhnt als Arbeiten wie Bauleitung oder Bauführung, wo das Schlussresultat funktionstüchtig sein muss und bei Schuld nicht mit markanten Worten gutgeredete werden kann. Stimmen Entlöhnung und der Rest des Berufsbilds nicht zusammen, dann schwindet die Bereitschaft zum Engagement. Es zeichnet sich eine Abwanderung zu anderen risikoloseren und einträglicheren Möglichkeiten ab. Der tschechisch-kanadische Umweltwissenschafter Vacslav Slim (*1943) stellt in seinem Buch «Wie die Welt wirklich funktioniert» fest, dass Arbeitskräfte vermittelnde Personen höhere Einkommen erzielen als diejenigen, welche schlussendlich die materielle Arbeit an der Front erledigen. Gute Einkommen können auch wieder dazu führen, dass der Anstellungsgrad reduziert wird, was den Fachkräftemangel wiederum verstärkt.
Delegation an den Kunden [7]
Immer mehr werden Prozesse an den Kunden ausgelagert, sei das das Selberscannen von Artikeln im Supermarkt, sei das das Verwalten des Dossiers für eine Versicherung oder eine Vereinsmitgliedschaft. Zuerst haben diese Möglichkeiten die Nutzer fasziniert. Es ist etwas Neues gewesen. Mit der Zeit ist Ernüchterung eingetreten, denn die Systeme haben regelmässig nicht funktioniert. Zudem ist die Verantwortung auf den Kunden übertragen worden. Von einer Entschädigung der Mehrarbeit auf Kundenseite ist nie die Rede gewesen. Und macht der Kunde nur einen einzigen Fehler, z.B. wenn er das Scannen eines Artikels vergisst, dann trägt dieser auch das Risiko. Es hat aber noch eine zweite Delegation stattgefunden: Die Fachkräfte haben oft ihr Unterstützungspersonal verloren und müssen heute die eigenen Verwaltungsarbeit übernehmen. Ob das sinnvoll ist, wird kaum in Frage gestellt. Zudem hat früher bei der Arbeitsteilung automatisch eine Vier-Augen-Kontrolle gewirkt, welche heute oft überhaupt nicht mehr passiert und Angriffsfläche nicht nur im Cybersicherheitsbereich liefert.
Mehrfacherfassung in Dokumente statt konsequentes Datendenken [8]
Daten werden heute vielfach mehrfach erfasst und oft in Dokumenten, einer nicht optimalen Art. Umfangreiche Daten müssen aber auf verschiedene Art und Weisen selektieren und abgebildet werden können. Das Datenvorhaltungsmodell mit den Dokumenten kommt rasch an seine Grenzen. Eine Denkweise in Systemen ist gefragt, wo die Daten neutral gespeichert und für verschiedene Auswertungsfälle aufbereitet werden. Mehrfacherfassungen führen zu Doppelspurigkeiten bei der Eingabe aber auch beim Abgleichen von widersprüchlichen Daten. Ein gutes Beispiel ist das elektronische Patientendossier, das so nicht vom Fleck kommt: Von einem PDF-Friedhof, wie letztes Jahr in Schweizer Tageszeitungen dazu zu lesen gewesen ist, können keine Zusammenhänge gezogen werden.
Schlussbetrachtungen 1. Teil
Es stellt sich die berechtigte Frage, ob wir mit dem Geschaffenen nicht überfordert sind, nur schon um dieses im Schuss zu halten. Leider wird auch für zukünftige Projekte nur in Ausnahmefällen auf die spätere Beherrschbarkeit und den Ersatz unter Betrieb gedacht.
Aber auch auf der persönlichen Ebene, ich nennen sie Mikroebene, führt die Spurensuche zu weiteren Punkten, sofern wir wirklich akzeptieren, dass die Ressourcen inklusive die uns zur Verfügung stehende Zeit pro Tag limitiert ist. Dazu werden Sie im zweiten Teil, in der Dezember-Ausgabe der Basel Wirtschaft, mehr erfahren. Und dort werden Sie bestimmt Optimierungspotential für den eigenen Zeitgewinn ableiten können.
Dr. Urs Wiederkehr (*1961), ist Dipl. Bau-Ingenieur ETH/SIA und Leiter des Fachbereichs Informationsmanagement auf der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA.
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Legenden / Texte
Blick vom Physik-Hochhaus Richtung Nord-Westen: Unter dem quadratischen Dach mit Moosschicht treffen der Eduard-Stiefel- und der John-von-Neumann-Weg zusammen..
Legende Zeitreise – Kartenwerke
Veränderung unserer Landschaft am Beispiel Campus ETH Hönggerberg
Bei der Markierung treffen heute der «John-von-Neumann-Weg» und der «Eduard-Stiefel-Weg» aufeinander. 1954 hat dieser Punkt einsam auf der grünen Wiese gelegen. Der Campus ETH Hönggerberg ist ab 1961 entstanden.
Urs Wiederkehr, 2.6.2024