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Alexander Karl Müller – ein weiterer Technologie-Pionier aus Basel

Fünf Nobelpreisträger in Physik haben ihre wegweisenden Entdeckungen an IBM-Forschungszentren erarbeitet, vier davon im schweizerischen Ableger in Rüschlikon-Zürich. Den passenden Incubator dafür, also Brutkasten, haben zwei Basler aufgebaut: Ambros Speiser als Gründungsdirektor und Karl Alexander Müller als Leiter der Physikabteilung. Nach der Vorstellung von Speiser als weiteren Wegbereiter der Digitalisierung in «BaselWirtschaft 2/2022», folgt das Portrait des am 9. Januar 2023 im Alter von knapp 96 Jahren verstorbenen Karl Alexander Müller, einem dieser vier Nobelpreisträger. Zusammen mit Georg Bednorz ist er 1987 mit dem Preis ausgezeichnet worden: «für ihre bahnbrechende Entdeckung von Supraleitung in keramischen Materialien». Also starten wir Ende der 1920er Jahre in Basel.

Von Basel über Lugano zum Physiker

Karl Alexander Müller ist am 20.4.1927 in Basel geboren worden. Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er im österreichischen Salzburg, denn sein Vater Paul Rudolf hat dort Musik studiert. Mit einem Abstecher ins Haus der Grosseltern in Dornach, ist er mit seiner Mutter Irma nach Lugano gezogen, entnehme ich Müllers Nobelpreis-Biographie. Dort besuchte er die Schulen und lernte so perfekt die italienische Sprache. Im Alter von elf Jahren hat er seine Mutter verloren und aus dieser tragischen Konstellation heraus anschliessend das Evangelische Gymnasium Schiers im Prättigau besucht. Müllers Erinnerung ist heute leider wieder aktuell: Er ist vor dem 2. Weltkrieg, in Schiers angekommen und bei dessen Ende, hat er die Matura bestanden. Das Verfolgen der Kriegsereignisse aus einem neutralen Land heraus ist für Müller eine besondere Situation gewesen und hat zu diversen Diskussionsrunden unter den Mitschülern geführt. In Schiers hat Müller viel Sport getrieben, Radios gebastelt und das liberale Umfeld der Schule als anregend empfunden. Statt Elektroingenieur zu studieren, hat er sich für Physik entschieden.

Nach dem Abschluss der Rekrutenschule hat er an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich gestartet. «Atombombensemester» sei Müllers Studiengruppe genannt worden, denn kurz von der Immatrikulation sind zum ersten Mal Kernwaffen eingesetzt worden. Die Gruppe ist drei Mal grösser gewesen als diejenige im vorherigen Jahr: Kernphysik hat begeistert. Physiker Paul Scherrer (1890-1969), nach dem seit 1988 das grösste Forschungsinstitut für Natur- und Ingenieurwissenschaften in der Schweiz benannt ist, hat Müller grossen Eindruck gemacht und mit seinen Experimenten seinen Zugang zur Physik geprägt. Andere Vorlesungen sind für Müller nicht so aufschlussreich gewesen. Er hat sich ernsthaft überlegt, zur Elektrotechnik zu wechseln. Praktikumsleiter Werner Känzig (1922-2002), der anfangs der 1980er Jahren den Autor dieser Zeilen als Physikprofessor unterrichtet hat, konnte Müller überzeugen, bei der Physik zu bleiben. Er hat es nicht bereut, auch dank Vorlesungen bei Wolfgang Pauli (1900-1958), der eben 1945 mit dem Nobelpreis in Physik ausgezeichnet worden ist. Hat Student Müller damals schon daran gedacht, dass er einmal selbst diese Auszeichnung erhält?

Abstecher zum Eidophor, dem helvetischen Beamer

1952 hat Müller das Physiker-Diplom erworben und, so schreibt Müller in seiner Nobelpreis-Biographie kurz und bündig, ein Jahr lang am Eidophor-Grossanzeigesystem der ETH gearbeitet. Was er gemacht hat, beschreibt er leider nicht. Eidophor ist das erste Verfahren gewesen, mit dem analoge Fernsehbilder auf eine grosse Fläche projiziert werden konnten, so wie heute ein Beamer. Die Idee dazu entwickelte ETH-Professor Fritz Fischer (1989-1947), der unter anderem die Tonfilmanlage der UFA-Studios in Potsdam-Babelsberg verantwortet hat. Das Projekt stellte einige Herausforderungen, musste doch ein Öl gefunden werden, das mit Hilfe einer Kühleinrichtung genügend leitfähig gehalten werden konnte. Auf dieser Ölschicht sind mit einem Kathodenstrahl die Fernsehbilder Punkt für Punkt gezeichnet worden. Eine Bogenlampe hat diese Ölpunkte auf die Leinwand projiziert. Die Apparatur beanspruchte zuerst zwei Stockwerke im Physikgebäude, später ist sie miniaturisiert worden. Das System hat, wie die ETHistory schreibt, keinen Erfolg in den Kinos, aber Hochschulen und Industriebetriebe haben das System genutzt. In Erinnerung ist die Anwendung von 1969 im Kontrollzentrum der NASA in Houston (Texas) geblieben, wo auf 34 Eidophor-Leinwänden die ersten Schritte der Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin auf dem Mond mitverfolgt werden konnten. Obwohl für mich als Laie eine verbale Verbindung der Leitfähigkeit von Öl und von Supraleitern erkennbar ist, hat Müller die Eidophor-Entwicklung wieder verlassen und erwähnt sie in seinen Ausführungen nicht weiter.

Eigentlich wollte Müller nie Forscher werden. Er habe sich in Bad Ragaz bei Cerberus vorgestellt, die Feuermelder entwickelt haben. Nach dem Gespräch, das recht positiv verlaufen ist, ist er allein zum Mittagessen ins Personalrestaurant geschickt worden. Ein anderer Termin des Verantwortlichen verhinderte die gemeinsame Weiterbesprechung am Mittagstisch, wie Müller 2011 dem Wissenschaftsjournalisten Beat Glogger erläutert hat. Für Müller ist damit die Sache erledigt gewesen: «Das passiert dem Alex Müller nicht.»

Doppelter Erfolg dank Forschertrieb

So geht’s zurück zur Forschung und Müller schliesst 1958 sein ETH-Doktorat in Physik. Er wechselt als Leiter der Magnetresonanz-Gruppe nach Genf ans Battelle Memorial Institute. Die Zeit dort haben Müller und seiner Ehefrau Ingeborg Marie Louise, seiner Mentorin und guter Begleiterin, wie er schreibt, aus zwei Gründen so gut gefallen: Erstens der Charme der Stadt und zweitens die Geburt von Tochter Silvia. Sohn Eric erblickte das Licht der Welt bereits 6 Monate vor Müllers Einreichung der Dissertation.

Schon während seiner Zeit in Genf hat Müller einen Lehrauftrag an der Universität Zürich erhalten, später ist er Titularprofessor geworden. Darauf basierend bot ihm 1963 IBM-Forschungsdirektor Ambros Speiser (1922-2003) eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Rüschlikon an. Und mit Ausnahme eines zweijährigen Einsatzes am Thomas J. Watson Research Centers (New York) hat Müller bis zu seiner Pensionierung dort gearbeitet. 1963 ist übrigens auch Heinrich Rohrer (1933-2013) zu IBM gestossen.

Müller forschte und publizierte auf dem Gebiet der Magnetresonanz und unter anderem der Supraleitung, also der Entwicklung von Materialien, welche einen widerstandslosen Transport von Elektrizität erlauben. Die Nachwuchsförderung ist ihm sehr wichtig gewesen. So hat er früh das Potential der Studienarbeiten von Johannes Georg Bednorz (*1950) erkannt, ihn entsprechend gefördert und insbesondere die dafür notwendigen Freiheiten gegeben. Bednorz erläutert das in seiner Nobelpreis-Biographie, wie «Alex» ihn ermutigt habe, seine Forschungen fortzusetzen, aus Fehlern zu lernen und so die Angst zu verlieren, Probleme auf die ganz persönliche Art und Weise anzugehen. Kurz bevor Müller nach den USA reiste, hat er einen weiteren Forscher angestellt: Gerd Binnig (*1947).

Müller verfolgt aufmerksam die gewaltigen Fortschritte, die Heinrich Rohrer und Gerd Binnig beim Rastertunnelmikroskop erzielen. 1982 wird Müller IBM Fellow. Diese geniessen eine grosse Freiheit in der Wahl ihres Arbeitsgebiets. So werden pro Jahr nur wenige Forscherinnen und Forscher in diesen Status versetzt; 2022 sind es 6 gewesen. Thomas J. Watson, Jr. hat diese technische Karrierestufe vor 60 Jahren geschaffen. Unter den Fellows finden sich heute nicht nur 5 Nobelpreisträger, sondern auch fünf Turing-Award-Träger, dem «Nobelpreis für Informatik-Leistungen», sowie Gewinner weiterer Auszeichnungen wie des Kyoto-Preises oder die U.S. Presidential Medal of Freedom. Zudem haben die Fellows bis 2016 schon über 9000 Patente generiert, unterdessen sicher noch einige mehr. Auch Datenbank-Urvater Edgar F. Codd (1923-2003) oder Benoît Mandelbrot (1924-2010), der Wegbereiter der fraktalen Geometrie, gehören zur Gruppe der IBM Fellows.

Müller hat 1985 seine Führungsaufgaben abgegeben um sich wieder mehr der Forschung zu widmen. So konnte er 1986 aus nächster Nähe miterleben, wie Heinrich Rohrer und Gerd Binnig für die Entwicklung des Rastertunnelmikroskops mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet worden sind. Innert Jahresfrist, 1987, und 24 Jahre nachdem Müller zur IBM gekommen ist, ist auch er zusammen mit Johannes Georg Bednorz mit dem Nobelpreis für die Entdeckung der Hochtemperatursupraleiter ausgezeichnet worden. Instituts-Gründer Ambros Speiser ist damals bereits 20 Jahre von der IBM-Forschung weg gewesen. Er hat die Konzernforschung bei BBC, heute ABB, in Baden-Dättwil aufgebaut. Mit der Anstellung von Rohrer und Müller hat er 1963 die richtigen Weichen gestellt. Die beiden Forscher haben ihre Forschungsgruppen mit jüngeren Forschern ergänzt. Und dann geduldig und gelassen weitergeforscht und die Resultate ausgewertet.

Fazit

«Zwar standen diese Nobelpreise in keinem direkten Zusammenhang zur Informatik, aber sie stärkten das Prestige von IBM als IT-Technologiekonzern beträchtlich», schreibt Gregor Henger im Buch «Informatik in der Schweiz – Eine Erfolgsgeschichte verpasster Chancen» von 2008. Wie weit Müllers Erfolg heute direkte Nachwirkungen haben, z.B. im Bereich der Supraleitung im Umfeld von Quantencomputern, ist nicht restlos aufdeckbar. Auf jeden Fall haben Müller und Bednorz die grundlegenden Impulse gegeben, in welcher Richtung weitergeforscht werden muss. So ist auch innerhalb kürzester Zeit die Sprungtemperatur bei Supraleitern dank Entwicklung von neuen Legierungen massgeblich erhöht worden. Alexander Karl Müller hat ein Dutzend Ehrendoktor-Titel erhalten und seine Wohngemeinde Hedingen ZH ihn 1988 zum Ehrenbürger ernannt. Selbstverständlich sind auch die drei anderen Nobelpreisträger aus Rüschlikon in den Status des IBM Fellows gerückt.

IBM Fellows sind «The best and brightest of our best and brightest” steht im Webautritt von IBM. IBM-Chef Thomas J. Watson Jr. (1914-1993) erklärt dort: „Wir stehen mit Demut im Schatten dessen, was unsere IBM Fellows erreicht haben, sind stolz darauf, mit ihnen verbunden zu sein, und freuen uns auf das, was sie in den kommenden Jahren erreichen.» Auch der Baser IBM Fellow Alexander Karl Müller hat in diesem Sinne gehandelt und die erhaltene Freiheit ein Leben lang in den Dienst der erfolgreichen Forschung gestellt.

Dr. Urs Wiederkehr (*1961) ist Dipl. Bau-Ing. ETHS/SIA und Leiter des Fachbereichs «Digitale Prozesse» der Geschäftsstelle des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA.

von Dr. Urs Wiederkehr

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